Intergalaktisches

Professor Rüdisühli
Herr und Frau Möckli sind in die Ferien abgereist. Auf die Aleuten, oder vielleicht eher auf die Kykladen, so genau weiss dies Herr Professor Rüdisühli nicht mehr. Jedenfalls haben Möcklis ihm den Wohnungs- und Briefkastenschlüssel überlassen und ihn gebeten, bis zu ihrer Rückkehr die Pflanzen zu giessen, die Katze zu füttern und den Briefkasten zu leeren. Der schon seit Ewigkeiten im Ruhestand befindliche Astrophysiker Rüdisühli ist seit vielen Jahren immer wieder daran, unter dem Titel «Erinnerungen an den Urknall» seine von merkwürdigen Begebenheiten geprägte Autobiografie zu verfassen, und wenn er am Schreiben ist, vergisst er meist alles andere um ihn herum. Jetzt sind Möcklis schon seit zwei Tagen weg, und Rüdisühli erinnert sich plötzlich mit der Heftigkeit einer Sonneneruption an seine nachbarschaftliche Pflicht. Ja natürlich: Briefkasten, Katze und Pflanzen, alles klar. Giessen, leeren, füttern, nichts einfacher als das: Katze giessen, Pflanzen leeren, und Briefkasten füttern, oder umgekehrt: Katze leeren, Briefkasten giessen, Pflanzen füttern, oder vielleicht eher: Briefkatze leeren, Giesskanne giessen, Schwarze Löcher füttern, Vollmond leeren, Milchstrasse aufschäumen, Asteroidengürtel anschnallen… Professor Rüdisühli hat den Überblick über sein Universum völlig verloren. Ja, ja, die verdammte Vergesslichkeit, die wie ein Schwarzes Loch seine Gedächtnisinhalte aufsaugt, die dann womöglich in irgendeinem Paralleluniversum wieder auftauchen. Zum Glück ist ihm das logische Denken noch nicht weggeschlürft worden. Mit glasklar logischer Reflexion bringt er das alles mental schon wieder auf die Reihe. Sicherheitshalber erscheint es ihm am besten, zunächst systematisch alles zu giessen, dann hat er auf jeden Fall das Giessen nicht vergessen (bzw. vergossen). Dann würde er alles leeren, und wenn alles geleert ist, alles füttern. Aber vielleicht ist Eines allenfalls doch noch besser, nämlich den Möcklis auf die Aleuten «anläuten». Aber anderseits will Herr Rüdisühli die Möcklis in den wohlverdienten Ferien nicht mit einem solchen Anruf in Unruhe versetzen. Viel zielführender erscheint es ihm, den genauen Inhalt seiner nachbarschaftlichen Pflichten ganz rational nach naturwissenschaftlichen Methoden experimentell zu ergründen. Wie er sich dann aber mit der Giesskanne Möcklis Katze nähert und zu ihrer Begiessung ansetzt, nimmt die Katze blitzschnell Reissaus. Also, folgert Rüdisühli stringent, kann sich das Giessen sicher nicht auf die Katze beziehen. Somit bleibt für die Katze wohl nur noch das Füttern übrig, weil das «Leeren» einer Katze kaum einen gutnachbarschaftlichen Sinn ergeben dürfte. Ebenso wenig ist es für den logisch denkenden Rüdisühli vorstellbar, wie so etwas wie das «Leeren» von Pflanzen vor sich gehen sollte. Trotz seiner alltagsmentalen Defizite schafft es Rüdisühli so, sich dank luzider logischer Kombination einen klaren Überblick über seine Nachbarspflichten zu verschaffen, ohne dass dazu weitere naturwissenschaftliche Experimente, wie etwa das Giessen des Briefkastens erforderlich sind. Doch immer, wenn Professor Rüdisühli in Möcklis Garten mit der Giesskanne unterwegs ist, bringt sich die Katze blitzartig in Sicherheit. Für Möcklis Katze ist die Giesskanne mindestens so abschreckend, wie für bürgerliche Sparpolitiker, wenn es um soziale oder kulturelle Anliegen geht. Gerade an kulturellen Dingen ist Professor Rüdisühli nun aber ausserordentlich interessiert. Als Veteran der Wissenschaften würde er gerne wieder einmal an einem wirklich grossen kulturellen Ereignis mitwirken, beispielsweise an einer audiovisuellen Neuinszenierung des Urknalls, für die er ja als Astrophysiker mit seinem Know-how durchaus einen wertvollen Beitrag leisten könnte. Aber nun muss er sich halt vorerst auf seine nachbarschaftlichen Aufgaben (Giessen, Leeren, Füttern) konzentrieren, zumindest solange die Möcklis noch nicht von den Kykladen – oder sind es nicht eher die Plejaden? - heimgekehrt sind. Ja, die Möcklis sind ganz bestimmt auf die Plejaden gereist. Wenn das so ist, dann haben sie dort mit Sicherheit auch keinen Handyempfang und sind nicht einmal mit einem Satellitentelefon erreichbar. Als Astrophysiker weiss Rüdisühli zudem, dass die Plejaden rund 400 Lichtjahre von der Erde entfernt sind. Sogar wenn die Möcklis mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs wären, dauerte es mindestens 800 Jahre, bis er von seiner nachbarschaftlichen Pflicht wieder entbunden würde, nicht mitgerechnet den eigentlichen Ferienaufenthalt der Möcklis auf den Plejaden. Professor Rüdisühli muss also wohl oder übel noch mindestens 800 Jahre durchhalten mit der endlosen Giesserei, Leererei und Fütterei. Dabei ist er ja jetzt schon uralt; für seine unsägliche Nachbarspflicht müsste er sich also wie besessen fit halten, vor allem in mentaler Hinsicht. Anderseits würden sich in derartigen Zeiträumen infolge der begrenzten Lebensdauer der Katze und der Pflanzen und wegen der irgendwann einmal zu erwartenden Abschaffung der Briefzustellung die nachbarschaftlichen Aufgaben von selbst erledigen, und Rüdisühli wäre doch noch zu seinen Lebzeiten in der Lage, an seinem kulturellen Lieblingsprojekt, der Neuinszenierung des Urknalls, mitzuwirken. Aufgrund seines dann bereits astronomisch fortgeschrittenen Alters würde das Publikum ihm ohne weiteres abnehmen, dass er schon beim Original-Urknall seinerzeit vor rund 13,8 Milliarden Jahren dabei gewesen sei. Tatsächlich ist er jedoch in seinem astrophysischen Leben nur hie und da in eine interstellare Zeitschlaufe hineingeraten. Wenn Sie mehr darüber erfahren möchten, kaufen Sie Rüdisühlis paradoxe Autobiografie «Erinnerungen an den Urknall», die allerdings wegen der erwähnten Zeitschlaufenphänomene, wegen Rüdisühlis nachbarschaftlichen Pflichten und wegen der unseligen geistaufschlürfenden Schwarzen Löcher leider immer noch nicht im Buchhandel erschienen ist.
CH.B. 23.06.2024

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