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«Mues das denn wirklich nomol sii?»

Der Pflatsch-Hirsch
Ein Platzhirsch braucht vor allem einmal Platz. Ohne Platz ist so etwas wie ein Platzhirsch praktisch unmöglich. Aber auch, wenn Platz an sich vorhanden ist, heisst das noch lange nicht, dass sich an jedem Platz, wo es Platz hat, ein Platzhirsch befindet. So ist sogar am Hirschenplatz in der Zürcher Altstadt weit und breit kein Hirsch zu sehen, geschweige denn ein Platzhirsch. Wenn wir also gehofft haben, es habe auf dem Hirschenplatz einen Platzhirsch, dann ist diese Hoffnung leider geplatzt. Dafür werden in der Gastronomie rund um den Hirschenplatz in der Jagdsaison «Hirschplätzli» serviert, dazu Spätzli und «Platzalat», das kommt einem Platzhirsch dann doch recht nahe. Ausserdem gibt es durchaus einige Hirschplätzli-verzehrende Homo-Sapiens-Männchen, die sich gerne als Platzhirsch aufspielen. Wenn sie röhren, dann vor allem mit einem akustisch hochgetunten Sportwagen. Wo auch immer sie auftreten, tun sie alles, um die Szenerie zu «behirrschen», meist mit hoch erhobenem Haupt, wie wenn dieses mit einem echten Geweih bestückt wäre. Mit seiner «Geweihsheit» überhäuft so ein Alphatier ungefragt alle Anwesenden und präsentiert sich gerne nicht nur als Platzhirsch, sondern auch als «Platzhirn», als absolute mentale Supermacht auf dem Platz. Das Servierpersonal wird von diesem ungebremsten Chefcharismatiker wie sein persönliches Revierpersonal behandelt und muss all seine dummen Plattheiten mit professioneller Gelassenheit über sich ergehen lassen. Es braucht viel, bis diesen Unerschütterlichen der Kragen platzt und sie die «Behirrschung» verlieren. Dann aber dürfte ein solcher aufgeblasener Platzhirsch seinerseits ziemlich platt sein, ein «Platthirsch» sozusagen, der beleidigt vom Platz geht. Er wird dann, wenn irgend möglich in Begleitung von eleganten «Hirschdamen», mit seinem «Platzporsch» nach Hause röhren und sich dann im Garten seiner «hirrschaftlichen» Villa mit einem grossen «Pflatsch» in seinen Thermal-Swimmingpool stürzen und so allen, insbesondere den «Hirschinnen», zeigen, dass er ein wahrer «Pflatschhirsch» ist.
Ch.B. 14.05.2024

Die Schweigeepidemie
In der städtischen Philharmonie herrscht in letzter Zeit nicht mehr so viel Harmonie. Zwischen dem Dirigenten Herbert von Hurricane und dem zweiten Geiger Giuseppe ist nämlich ein Streit darüber entflammt, wieviel Ritardando das D-Dur-Violinkonzert, Opus 35 von Tschaikowsky gerade noch erträgt. Giuseppe bat den Dirigenten, zu dieser Frage doch noch die Meinung der anderen Orchestermusiker/innen einzuholen, der Dirigent blockte die Diskussion jedoch presto rigoroso ab, und Giuseppe erhielt in der nächsten Orchesterprobe dann «andante fristloso» die Kündigung. Dass ihn einige Orchesterkolleg/innen aufforderten «Giuseppe, wehr di!», gefiel dem Dirigenten ganz und gar nicht. Nein, «Giuseppe, wehr di» im Konzertsaal, das geht gar nicht! Und deshalb nötigte er alle Orchestermitglieder, über diese ganzen Vorgänge eine Stillschweigevereinbarung zu unterzeichnen. Über das, was in der inzwischen nur noch wenig harmonischen Philharmonie passierte, herrscht somit ein absolutes Ritardando, kombiniert mit einem absoluten Pianissimo. Sicherheitshalber hat Hurricane nicht nur eine einfache Schweigepflicht erlassen, sondern zudem auch eine Stillschweigepflicht darüber, dass eine solche Stillschweigepflicht überhaupt vereinbart wurde. Schliesslich - man weiss ja nie – erfasst das Stillschweigen sogar auch die Tatsache, dass über die Vereinbarung des Stillschweigens seinerseits Stillschweigen vereinbart wurde. Somit herrscht auch Stillschweigen über das vereinbarte Stillschweigen bezüglich des ursprünglich vereinbarten Stillschweigens, was soviel heisst: es herrscht Stillschweigen darüber, dass über das Stillschweigen Stillschweigen herrscht.
Bei soviel sich selbst verschweigendem Stillschweigen herrscht sodann auch Stillschweigen darüber, was genau Gegenstand des Stillschweigens ist. Man kann deshalb nicht zuverlässig wissen, wieweit sich das Stillschweigen erstreckt, und muss im Zweifel bei jeder Tatsache davon ausgehen, sie könnte vom Stillschweigen erfasst sein. Ausgehend von Herbert von Hurricanes absoluter Verschweigungsbesessenheit breitet sich im grossen Konzertsaal in kurzer Zeit eine regelrechte Schweigeepidemie aus, die im Schneeballsystem bald auch das ganze Gebäude der Philharmonie erfasst. Das Erzeugen von Tönen ist in der Philharmonie inzwischen praktisch unmöglich geworden. Aus dem Tschaikowsky wird damit unentrinnbar ein «Schweigkowsky». Das lawinenartige Schweigen entwickelt eine derartige Eigendynamik, dass im Konzertprogramm nur noch das viereinhalbminütige Stück «Tacet» von John Cage gespielt werden kann, welches ausnahmslos aus Schweigen besteht. Mit seinem sich selbst potenzierenden Schweigegebot hat Herbert von Hurricane den Konzertbetrieb letztlich zum Erliegen gebracht. Wie ein Gespenst sieht man ihn noch hie und da im leeren Konzertsaal, wie er mit rhythmischen Armbewegungen das «Schweigen dirigiert». Infolge der grassierenden Schweigeepidemie ist die Aktivität der Schallwellen in der ganzen Philharmonie völlig zusammengebrochen. Niemand ist in der Lage, das absolute Schweigen zu durchdringen. Man kann nur hoffen, dass die Epidemie der Klanglosigkeit, wie jede Epidemie, nach einer gewissen Zeit wieder «abklingen» wird. Nach einigen Wochen lockert sich der Bann dann soweit, dass im Konzertsaal eines Tages plötzlich ein kurzer schüchterner Halbton die Schwelle der Hörbarkeit überschreitet. Allmählich macht sich dann auch ein leiser Ganzton bemerkbar. Nach einer Weile meldet sich ein O-Ton, gefolgt von einem A-Ton und einem B-Ton. Immer noch sehr zaghaft kann man dann einen Anton hören, einen Proton, einen Platon, Bariton und Duke-Elling-Ton. Und noch ganz «verpennt» gähnt ein Pentaton mitten in das bereits durchlöcherte Schweigen hinein. Von einer Bespielbarkeit mit Musik ist die Philharmonie jedoch noch weit entfernt. Der Einzige, der vielleicht in der Lage ist, den Schweigebann mit seinem Geigenspiel aufzulösen ist der entlassene zweite Geiger Giuseppe. Herbert von Hurricane zögert lange, der seinerzeitige rebellische Aufruf der Musiker «Giuseppe, wehr di!» ärgert ihn immer noch. Aber schliesslich springt er über seinen schweigenden Schatten, und Giuseppe kann den Konzertsaal betreten. Giuseppe spielt dann tatsächlich Verdi, eine kurze Melodie aus der Ouvertüre zu La Traviata. Seine Musik lässt den Schweigebann sanft dahinschmelzen. Bald kommt im Lokalradio die Meldung: Das absolute Ritardando in der Philharmonie hat sich aufgelöst…
Ch.B. 13.11.2023

Von der Realität eingeholtes Lied von 2012 «Too-big-to-fail» und aktuelles Stimmungsbild

«Stimmungsbilder einer Finanzplatzrettung (öffentlich sichtbarer Teil)»
Bei der kürzlich erfolgten «Notfusion» der katastrophal angeschlagenen Credit Suisse mit der UBS wurde die Öffentlichkeit mit bizarren Tatsachen und Gerüchten aber auch mit einer ganzen Reihe von symbolträchtigen Namen und neuen Wortkombinationen konfrontiert. Da trat zum Beispiel der eher wortkarge Nationalbank-Direktor Thomas Jordan in Erscheinung, der wie ein Fährmann durch dunkle Fluten gewissermassen die Aufgabe hatte, der todkranken CS sanft und seinem Namen gerecht «über den Jordan» zu helfen. Da begegnet uns der CS-Verwaltungsratspräsident, der ja nichts dafür kann, dass er ausgerechnet den «finanzkollapsigen» Namen «Lehmann» trägt, und der im übrigen eher einsilbig zum Ausdruck bringt, dass die Frage nach dem beliebten bürgerlichen Wort «Eigenverantwortung» bei den jetzigen und früheren Repräsentanten der CS überhaupt keinen Sinn mache. Die CS sei halt einfach von Altlasten eingeholt worden, und es hätten sich da irgendwelche Risiken (womöglich durch die geheimnisvoll-unsichtbare Hand des Marktes) materialisiert. Was soll man denn da anderes tun, als so wie Herr Axel Lehmann «axelzuckend» in die abzuwickelnde Zukunft zu blicken? In der legendären Pressekonferenz zur beschlossenen «Notfusion» nehmen die Protagonist/innen auf dem Podium immer wieder schillernde wirtschaftsjuristische Fachbegriffe und kryptische Abkürzungen in den Mund, insbesondere die respektgebietende Wortschöpfung für staatliche Liquiditätssicherung «Public Liquidity Backstop» (PLB). Als unbefangener Livestream-Zuhörer erschauere ich natürlich ob der durch diese Kult-Worthülse ausgestrahlten Fachkompetenz und stelle mir bei «Backstop» naiverweise vor, dass es hier wohl darum gehe, einer bedürftigen Bank öffentliche Liquidität gewissermassen «back», d.h. «hindere» zu «stopfen», was dem realen Vorgang vermutlich recht nahekommen dürfte. Interessant ist auch der in diesem Zusammenhang immer wieder verwendete Begriff des «Notrechts», der in der mehr und mehr angelsächsisch dominierten Rechts-Terminologie wohl am ehesten mit «Not-Law» zu übersetzen ist. Seltsamerweise hat man nun aber für das hier aufgetretene «too-big-to-fail-Problem» nicht das 2012 geschaffene, eigens für diese Konstellation vorgesehene, «Law» zur Anwendung gebracht, sondern einmal mehr wiederum das logischerweise viel flexiblere «Not-Law». Wenn die Sache mit dem «Not-Law» allerdings weiter um sich greift, gibt es bald einmal keine Bereiche mehr, in denen das reguläre «Law» noch zuverlässig zur Anwendung kommt. Verblüffend ist auch, dass gerade jetzt, da unser Bundesstaat mit der ganz grossen «Kelle» in Sachen Finanzplatzrettung unterwegs ist, die involvierte Finanzministerin (KKS) ausgerechnet «Keller» heisst, während der ebenso involvierte Präsident der UBS sogar einen noch «kelligeren» Namen hat, nämlich «Kelleher». Zum Staunen bringen uns ebenso die beeindruckenden Sprachkompetenzen der Protagonist/innen auf dem «Fusionspodium». Während die Finma-Direktorin, welche trotz ihres Tätigkeitsfeldes nicht etwa Amstutz, sondern Amstad heisst, ein hervorragend «liquides» Englisch mit «Innerswiss-Akzent» hinlegt, glänzt die Finanzministerin KKS mit einem very distinguished «british-english» in akzentfreiem upper-class-Akzent. Nicht zuletzt dank ihrer brillanten Sprachkompetenz war sie denn auch in der Lage, den hohen Ansprüchen und Erwartungen ihrer Telefon-Gesprächspartner/innen aus den USA, Janet Yellen, und aus dem UK, Jeremy Hunt, optimal zu entsprechen, und als Dank das Lob «you saved the world» entgegenzunehmen. Man stelle sich vor, diese Krise wäre schon im letzten Jahr zum vollen Ausbruch gekommen, und Ueli Maurer hätte sich mit Frau Yellen über «too-big-to-feel» unterhalten. Womöglich hätte der damalige «Finanzueli» die Wünsche der tonangebenden Finanzwelt schlicht missverstanden, und auch die UBS hätte ihm erfolglos zugerufen: «Ueli, bring die grosse Kelle her!» In diesem Sinne sind wohl alle Finanzplatzhirsch/innen insgeheim froh, dass Ueli schon im letzten Herbst seinen altersbedingten «Backstop» gemacht hat.
Christof Brassel, 28.03.2023

Von Muhen bis Brüllisau – eine «tierische Abstimmungsanalyse»
Darüber, dass die derzeit praktizierte industrielle Massentierhaltung zur Produktion von Billigfleisch, Hochleistungs-Milch und Doping-Eiern - vor allem im Ausland aber auch in der Schweiz – absolut skandalös ist, braucht es heute keine grossen Worte mehr, insbesondere ist es hier auch nicht mehr nötig, all’ die längst bekannten gruseligen Details in Erinnerung zu rufen. Die Änderung dieser unwürdigen Situation, insbesondere die Entwöhnung vom nach wie vor verbreiteten überdosierten Fleischkonsum (mehr als 50 kg Fleisch jährlich pro Kopf der CH-Bevölkerung, inkl. Kleinkinder und Vegetarier) ist auch aus Klimaschutzgründen überfällig, braucht aber offensichtlich noch etwas Zeit. Bei der Abstimmung vom 25. September 2022 waren immerhin 37,1% der Stimmenden für eine sukzessive stufenweise Abschaffung der Massentierhaltung, inkl. Verbot der Einfuhr von Billigfleisch, etc., aus dem Ausland. Wie die Geschichte zeigt, sind für die Abschaffung festgefahrener skandalöser Missstände halt oft mehrere Anläufe nötig. Dass der Abschied von unhaltbaren Tierhaltungsformen in den stärker mit diesen verbundenen ländlichen Regionen schwerer fällt als in städtischen ist dabei irgendwie noch verständlich, das Signal ist jedoch gesetzt: die industrielle Tierhaltung und die Massenfleischfabrikation sind gesamthaft ein Auslaufmodell. In diesem Sinne könnte es mit Blick auf das künftige Verhältnis zwischen den Menschen und den von ihnen gehaltenen Tieren womöglich interessant sein, wie diejenigen Regionen und Gemeinden abgestimmt haben, die bereits in ihrem Namen eine gewisse minimale Affinität zur Tierwelt aufweisen. So stimmt es uns durchaus zuversichtlich, dass gerade das zürcherische «Säuliamt» mit 42,7% Ja-Stimmen den gesamtschweizerischen Ja-Stimmenanteil von 37,1% doch recht deutlich überschritten hat. In einem ähnlichen Bereich liegt sodann auch das Ergebnis von Eglisau mit 42,4% Ja. Eher enttäuschend erscheint uns dagegen das Resultat von Diepoldsau mit nur 32,8% Ja, und noch enttäuschender dasjenige aus der legendären Schweinemastregion Willisau mit lediglich 20,7 Ja-Prozenten. Bei Schweinsbrunnen/BE liegt die Ja-Quote sodann nur leicht darüber bei kümmerlichen 23,9%. Im Sau-cisson-Kanton Waadt sind wir dann immerhin wieder bei 34,5%. Unter allen sau- oder schweinsgeprägten Örtlichkeiten erreichen wir beim emmentalischen Rüegsau, welches auch das Dorf Rinderbach einschliesst, den vorläufigen Tiefpunkt von 20,1%, womit wir dann bereits bei den Ortschaften angekommen sind, die im Zeichen des Rindes stehen. Nehmen wir da etwa den Vacherin-Kanton Fribourg, so landen wir hier auch nur gerade bei 27,1% Ja-Stimmen. Auch das scheinbar ideal auf Kühe eingestimmte aargauische Muhen bringt es da lediglich auf dürftige 25,9%, während Vechigen/BE sich mit 37,6% sogar leicht über dem CH-Gesamtergebnis einpendelt. Ortschaften mit lautmalerischer Hühner-Affinität zeigen sich für tiergerechte Haltungsformen immerhin etwas aufgeschlossener. So landete Hünikon/SO zwar nur bei 30% Ja, und Hünenberg/ZG nur bei 32,8%. In Hünibach am Hühner-, ääh.. Thunersee, kam jedoch eine Ja-Mehrheit von 50,7% zustande und in Kleinhüningen (Basel) sogar eine von 57,2%. Die hühnerbezogenen Gemeinden sind für die Anliegen ihrer Namenstiere somit eher sensibilisiert als die schweinsaffinen Ortschaften. Die stärkste kantonale Schweinemast-Fixiertheit finden wir schliesslich in Appenzell-Innerrhoden mit lediglich 21,6% Ja-Stimmen. Nicht umsonst gibt dieser Kanton mit der Ortschaft «Brüllisau» sinnbildhaft den Tonfall dieser traurigen Realität an. Nur eine Gemeinde ganz in der Nähe hat mit 17,3% noch weniger tierfreundliche Ja-Prozente aufzuweisen: Hundwil/AR. Da der Hund von der Massentierhaltung bekanntlich nicht betroffen ist, könnte diese Abstimmung den Hundwilern eigentlich «hundewurst» sein. Aber nein: bevor diese Initiative ganz vor die Hunde geht, wird sie hier noch zusätzlich mit einem echten Appenzeller-Wadenbiss abgefertigt. Wow…
Christof Brassel, 3.10.2022

Tramdialog
Kürzlich sass ich im Tram einem jungen, dunkel-gelockten Mann mit dezentem Bart gegenüber. Er trug Sandalen und hatte einen seiner Füsse auf dem gegenüberliegenden Sitzpolster platziert. In einem Anflug jäh aufblitzender Bünzligkeit bat ich den jungen Mann, den Sandalenfuss vom Sitz zu nehmen oder ihm wenigstens die Printausgabe der breaking news von «20-Minuten» zu unterlegen. Nach einer absichtsvollen Pause entgegnete der lockige junge Mann lächelnd: «Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem eigenen Auge?» Irgendwie machte mich diese Reaktion sprachlos, zugleich nervte mich dieser lächelnde Jesustyp. Als ich mich wieder gefasst hatte, antwortete ich ihm: «Ja, das hast du vor 2000 Jahren schon einmal auf deiner Bergpredigt verkündet.» «Pschscht!» zischte der Lockige, «niemand hier soll wissen, wer ich bin!»
Ich (I): «Dann solltest du dich aber hier im Tram lieber nicht mit deinen alten Zitaten in Szene setzen».
Jesustyp (J): «Die Leute im Tram kennen das doch alles gar nicht mehr und glauben eh nicht mehr an mich.»
In meiner Verwirrtheit über diesen seltsamen jungen Mann kommt mir plötzlich eine ziemlich bizarre Idee, und ich frage den angeblichen (oder zu 0,1 Prozent vielleicht doch echten) Jesus-Wiedergänger, ob er im Kontakt mit der russisch-orthodoxen Kirche stehe? Der Jesusmann verneint, aber erklärt, dass sich so ein Kontakt schon einrichten lasse. Ich lege dar, dass es da unter anderen um den Patriarchen Kyrill I. von Moskau gehe, der eng mit Putin verbandelt sei.
J: Ja, der Putin, ein Mann mit sehr vielen Balken in den Augen.
I: Die Idee wäre die, dass du aus einer russischen Jesus-Ikone heraus vor versammelter Gemeinde zu verschiedenen kirchlichen Würdenträgern, insbesondere auch zu Patriarch Kyrill I, sprechen könntest, um ihnen wegen des brutalen Putin-Krieges heftig ins Gewissen zu reden.
J: Ich müsste also quasi in eine Jesus-Ikone hineinschlüpfen und aus dieser heraus eine wundersame Schimpftirade gegen Putins Krieg starten.
I: Ja, das wäre super!
J: Aber ich kann doch gar nicht russisch!
I: Du hast doch sicher irgendwo noch so ein übersinnliches Übersetzungstool, Modell «Pfingstwunder».
J: Meinst du, das alles bringt etwas gegen diesen Krieg?
I: Wenn du als Jesus indirekt dem Putin aus einer Ikone heraus die Leviten liest, und dies womöglich in ganz verschiedenen prominenten russischen Kirchen vor vielen versammelten Gläubigen, dann werden diese Auftritte eine absolute Sensation sein, die der Kriegsideologie und -propaganda entscheidend den Boden wegziehen können.
J: Aber wird er deswegen seinen verbrecherischen Krieg beenden?
I: Solche Interventionen werden ihn direkt wohl kaum beeindrucken, aber in der orthodoxen Kirche, die ihn bisher nahezu bedingungslos unterstützt hat, wird er inskünftig wohl mehr und mehr einflussreiche Gegner haben, und die Zahl der stillen und offenen Oppositionellen wird in Resonanz zu dieser Ikonenpredigt markant steigen, ausserdem werden sich einige ambivalente Oligarchen und Bürokraten dazu durchringen, für eine Beendigung des Krieges zu lobbyieren.
J: Aber ich habe doch seinerzeit gesagt: «Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet!»
I: Mit diesem Satz kann man jeden Mafia-Staat gegen Kritik in Schutz nehmen. Abgesehen davon hast du ja seinerzeit selbst im Zorn die Händler und Wechsler zum Tempel hinausgejagt.
J: Ist mir schon klar, kommt halt auf den Kontext an. Aber der Putin wird sich auch von einem Jesus nicht umstimmen lassen.
I: Darüber mache ich mir keine Illusionen, aber wenn sein Machtgefüge Risse bekommt, wenn seine Anhängerschaft schwächer wird, dann kann sich sehr wohl etwas bewegen. Die Ikonen-Aktion ist da zumindest einen Versuch wert.
J: Gott hat den Menschen die Freiheit gegeben, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, da geht es nicht an, wegen jedem Problem gleich übersinnliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.
I: Das Übersinnliche daran ist lediglich die Schimpftirade aus den Ikonen heraus, den ganzen Rest müssen die Gegner dieses Krieges selber ins Rollen bringen.
J: Ich halt mich da lieber raus.
I: Es geht ja nicht nur um diesen Krieg in der Ukraine. Wir haben hier auf der Erde ein explosiv-gefährliches Klimaproblem. Je länger der Putin-Krieg dauert, umso verhängnisvoller zögert sich die Lösung der Klimafrage hinaus. Ausserdem: Wenn Putin in diesem Krieg sein imperiales Ziel erreicht, werden überall auf der Welt die übelsten Autokraten Aufwind haben, die sich einen Dreck um das Klima und um die Menschenrechte scheren. Du siehst, wir Menschen sind echt am Limit. Und was dich betrifft geht es ja nur darum, ein deutliches Zeichen zu setzen.
J: Du hast mich fast überzeugt, aber ich mache solche Sachen halt ziemlich ungern.
I: Wofür, wenn nicht für solche Sachen, bist du denn vor 2000 Jahren …?
J: …..Ich überlege mir das Ganze nochmals …., und jetzt werde ich meinen Fuss doch noch vom Tramsitz entfernen …

(Die Jesusfigur löst sich im Tram langsam in Luft auf)

Christof Brassel, 27.07.2022

Das grosse Aufräumen im Müll-All:
Das Weltall ist heute auch nicht mehr das, was es früher einmal war. Konnten sich die ersten Astronaut/innen vor rund 60 Jahren noch an einer erfrischend gähnenden Leere des Raumes erfreuen, ist derselbe Raum heute auf bejammernswerte Weise zugemüllt mit Weltraumschrott: mit ausgebrannten Raketenstufen, kaputten Satelliten, leeren Bierdosen, verbrauchten Batterien und verlorenen Schraubenziehern, die alle mit geschossartiger Geschwindigkeit gefährlich durchs All rasen. Allmählich verwandelt sich das gute alte Weltall in ein versifft-trostloses Abf-All, das nur deshalb nicht stinkt, weil es im All bekanntlich keine Luft gibt, die den Gestank in unsere Nasenlöcher transportieren könnte. Da es jedoch zu einem Verhaltens-Grundmuster männlicher Primaten gehört, sich auszubreiten und überall Spuren zu hinterlassen, ohne hinterher aufzuräumen, stehen die Chancen auf eine Lösung des All-Müll-Problems eher schlecht. Besonders bei erfolgsverwöhnten, restlos von sich selbst besessenen «Business-Primaten» ist eine krankhaft expansive Verhaltensstörung, das sogenannte «All-Macht-Syndrom», heute weit verbreitet. Zum entsprechenden Krankheitsbild gehört es, dass die befallenen Patienten zwanghaft alles tun müssen, um ihrer Vorstellung gemäss die Herrschaft über das All, die All-Macht, zu erringen. Und so kommen zu all’ den sonstigen All-tlasten im All auch noch all’ die durchgeknallten Milliardär-Space-Shuttle-Taxis hinzu, welche uns, von chaotischen All-gorithmen gesteuert, den All-Tag vermiesen. Wehmütig erinnern sich da die älteren All-Bewohner/innen noch an die sprichwörtliche Aufbruchstimmung, welche im All unmittelbar nach dem Urknall vor rund 13,7 Milliarden Jahren herrschte. Diese Zeiten sind heute längst verflossen. Die Party ist vorbei, es ist Zeit zum Aufräumen. Besonders gründliche und gnadenlose Aufräumer im All sind heute die sogenannten Schwarzen Löcher. So ein Schwarzes Loch ist nichts anderes als ein extrem verdichtetes Etwas, das ein derart komprimiertes Konzentrat seiner selbst ist, dass es gleichzeitig auch als hochkonzentriertes Nichts in Erscheinung tritt. In seinen grausigen Schlund saugt es buchstäblich alles hinein, was ihm über den Weg läuft. Im Hinblick auf die längst fällige Aufräumaktion im vermüllten All hat man kürzlich schon mal ein Foto des nächstgelegenen Schwarzen Lochs aufgenommen. Der Einsatz dieses hocheffizienten Schwarzen Lochs zur Entsorgung des überbordenden Weltraumschrotts ist allerdings nicht sehr praktikabel. Das besagte Schwarze Loch ist nämlich ganze 27'000 Lichtjahre von der Erde entfernt, und auch der vom All-Macht-Syndrom befallene Elon Musk hat bis jetzt noch kein hinreichend leistungsfähiges Kehrricht-Transport-Raumschiff entwickelt, um den erdnahen All-Müll zu jenem galaktischen Saugtrichter zu bringen. Doch neuerdings ist durchgesickert, dass genau jener All-Macht-berauschte Kontrollturbo auch in diesem Bereich absolutes Neuland beschreiten will. Mit einer neuen «Start-Through-Firma» ist er daran, durch eine hocheffiziente «Nonsens-Anreicherungsanlage» eine derart hochpotent-geballte Ladung von Nichts im Raum-Zeit-Kontinuum zu konzentrieren, dass ein solches extrem verstärktes «Ultra-Nichts» in der Lage sein könnte, gewissermassen als «mobiles Schwarzes Loch in Taschenformat» zu dienen. Ein derartiges «Mobilschwarzloch» könnte dann wie eine Strassenputzmaschine im erdnahen Weltraum zur ultimativen Entsorgung des All-Mülls eingesetzt werden. Angesichts dieses äusserst konstruktiven Vorhabens hat sich denn auch meine Haltung zu jenem krankhaften Nonsens, welchen die grössenwahnsinnigen Herren Musk, Bezos, Branson & Co. produzieren, grundlegend gewandelt. Je mehr absoluten Nonsens diese Super-Egos in die Welt setzen und anreichern, umso grösser sind die Chancen, dass wir in absehbarer Zeit über jene genial-verrückte Weltraum-Putzmaschine verfügen, die jenen Müll aufsaugt, den all’ diese Super-Egos bisher im All hinterlassen haben. Etwas unberechenbar könnte die Situation allerdings dann werden, wenn die ultimative Schwarzloch-Putzmaschine schliesslich allen Weltraumschrott «aufgefressen» hat und dummerweise immer noch hungrig ist…
Ch. Brassel, 26.6.2022

Hirntotentanz:
Eine der kreativsten Erfindungen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemacht wurden, ist der Hirntod. Seit es den Hirntod gibt, kann man überhaupt erst Organe rechtzeitig einem ehemaligen Menschen entnehmen, und zwar dann, wenn er noch nicht ganz ehemalig ist, um sie anderen Menschen einzusetzen, damit diese nicht auch noch ehemalig werden. Der Hirntod ist so gesehen etwas Geniales, allerdings nicht für die Hirntoten selber, sondern für die Secondhand-Organbenützer/innen. Was die Organe angeht, sind die Erstorganträger allerdings nicht gerade in Spendierlaune. Genau hier sollte nun aber der Satz «liebe deinen Nächsten» zu seiner vollen Entfaltung kommen, denn der Nächste ist doch niemand anders als eben jener Nächste, der dann nach meinem «Hirnschied» in der Warteschlaufe für eines meiner Organe steht. So gesehen ist die Welt dann ein besserer Ort geworden, wenn jeder Mensch weiss, dass er seine Organe gewissermassen nur «gemietet» hat, und dass er demgemäss aus reiner «Mietmenschlichkeit» heraus das wandelnde Ersatzteillager seines Nächsten ist. Die Menschen werden dann vielleicht sogar freundlicher zueinander, weil alle wissen, dass man bekanntlich nie weiss, - und es deshalb ratsam ist, seine potentiellen Ersatzteilträger zum Wohle der Ersatzteile gut zu behandeln. Weil das mit dem Tod halt so eine Sache ist, und weil aus organischen Gesichtspunkten ein Toter möglichst frisch sein sollte, am besten so frisch, dass er noch gar nicht fertig tot ist, - aus diesem Grund ist das Fertigsterben etwas, das sich von den Organen her gesehen eindeutig nicht mehr lohnt. Aber vom Gesichtspunkt des Sterbenden her ist das Fertigsterben über den Hirntod hinaus vielleicht gerade das spannendste und faszinierendste Erlebnis, das er je gehabt hat. Je nach Betrachtungswinkel ist diese Phase gewissermassen das packende Finale des Lebensfilms oder nur noch der Abspann. Für das Transplantationswesen ist der nachhirntodliche Teil des Lebensfilms allerdings völlig wertlos, und es will den «Abspannteil» der Menschenwürde deshalb nur noch dann zähneknirschend respektieren, wenn der betreffende Mensch schon im Laufe seines Lebensfilms ausdrücklich gegen das «vorzeitige Blackout» ein filmreifes «Objection Your Honor» erklärt hat. Bei Menschen, die keinen Einspruch erklärt haben, hört die Menschenwürde dann exakt beim Hirntod auf, und die Organträgerin wird bei noch laufendem Rest-Lebensfilm fachgerecht entkernt. Ob der Lebensfilm dadurch ein traumatisches Ende bekommt, wissen wir nicht, denn noch niemand hat je ein entsprechendes positives oder negatives Feedback gegeben. Eine Organspende ist also nach neuem Gesetz auch dann eine Spende, wenn sie gar nicht gespendet wurde, sondern nur «erschwiegen». Das wundersame Gesetz verwandelt somit auf geheimnisvolle Weise ein völlig argloses Schweigen in eine Zustimmung, und zwar in eine Zustimmung zu einem Eingriff, der im wörtlichen Sinne «einschneidend» ist. Doch die Argumente gegen das Fertigsterbenlassen der «Schweigenden Mehrheit» sind halt erdrückend. Das Drinlassen der Organe lohnt sich in keiner Weise und ist gewissermassen Organverschwendung, wenn man bedenkt, dass man mit dem Ausräumen so viele Menschen retten könnte, die sich halt schon noch etwas mehr «lohnen» als die Hirntoten, die sich unbedingt noch ihren eigenen Abspann reinziehen wollen. Gerade bei knappen Ressourcen lohnt es sich immer wieder, das zu tun, was sich lohnt, und gelohnt hat sich auf jeden Fall schon mal die Erfindung des Hirntods. Nur das Hirn selber kann man bei Hirntoten leider nicht transplantieren, weil es ja eben bereits hirntot ist. Für eine Hirntransplantation müsste man dann halt nötigenfalls einen noch weiter vorgelagerten Tod erfinden, z.B. den «Scheintod» oder so etwas. Aber selbst wenn dies gelänge, würden die mit einer Hirntransplantation verbundenen Probleme geradezu bizarre Ausmasse annehmen. Insbesondere stünden wir da vor der ultimativen Frage nach der Rollenverteilung von Spender und Empfänger: Ist nun wirklich der Hirnempfänger, der für seinen hirnlosen Körper ein neues Hirn erhält, der Empfänger, oder ist er nicht vielmehr der Spender, der dem empfangenen Hirn einen neuen Körper spendet? Oder fusionieren da zwei Teilmenschen zu einem neuen Individuum? Oder kommt es gar soweit, dass ein Teil- oder Ganzmensch mit einer smarten Zusatzmaschine zu einer künstlichen Intelligenzbestien-Chimäre verschmilzt? Und was passiert mit den nicht aufgerüsteten Normalmenschen, wenn plötzlich hochpotente biokybernetische Übermenschen mit einem unstillbaren Hunger nach Kontrolle und «Security» die Macht an sich reissen? - Ja, das war’s dann halt mit der kurzen – ohnehin nur sehr relativen - Phase von Freiheit und Menschenwürde. Dafür können wir uns dann immerhin am grenzenlosen Fortschritt «erfreuen». Beim Gedanken an derart gruselige Machbarkeitsexzesse kann man nur hoffen, dass diese Art der segensreichen medizinisch-technischen Innovation ziemlich bald eine segensreiche Schnellbremsung machen muss.
Ch. Brassel, 5.5.2022

Anlässlich der soeben überschrittenen 70-er-Schwelle - hier eine Rückblende auf meinen vor 10 Jahren verfassten Text zum Vergehen der Zeit:
«Wiedochdiezeipfergeht»
Es ist noch gar nicht so lange her, da war ich sechzehn und steckte mit Volldampf in den wilden Sechzigerjahren, nun mit sechzig melden sich die Sechziger ein zweites Mal, - wiedochdiezeipfergeht! Doch die Zeit vergeht nicht nur, sie rast dahin, sie entflieht, sie stürzt vorwärts, besinnungslos, unerbittlich, sie vergeht und vergeht und vergeht; und obwohl sie immerzu vergeht, ist sie doch nie ganz vergangen. Sie vergeht immer weiter, aber es bleibt von ihr immer eine Restzeit übrig, wie das Restwasser in unseren Alpentälern. Die Zukunft als Restzeit, als ein kläglicher, aber bisher noch nicht erschöpfter Restposten, der sich unablässig und halsüberkopf in den gierigen Schlund der Vergangenheit hinabstürzt. Die Zukunft, die sich plötzlich vergegenwärtigt, dass sie keine mehr ist. Der Zahn der Zeit zernagt nicht nur das gesamte Mobiliar des Universums, er zernagt auch die Zeit selber: die Steinzeit, die Eiszeit, die Bronzezeit, die Plasticzeit, die Kreidezeit, die Dienstzeit, die Freizeit, Halbzeit, Hochzeit, Krisenzeit, Überzeit, Sauregurkenzeit..... Und im Einflussbereich dieses Rachens, der alles frisst und frisst und frisst - prostmahlzeit -, ist die Zeit bald keine Zeit mehr, sondern selber nur noch eine Frist. Duliebezeit, duliebefrist. Dafür kann man mit einer Frist etwas tun, was man mit der Zeit nicht tun kann: Man kann sie erstrecken, und das Streckmittel ist unsere ungebrochene oder immer wieder zusammengeflickte Lebensfreude; und jetzt, wo unsere Zukunft bereits hinter uns liegt, lasst uns wenigstens noch eine herzhafte Portion Unvergangenheit geniessen! - Doch immer muss man daran denken, dass die Zeit im Raum stattfindet Ohne Raum hat die Zeit keine Chance. Doch wenn die Raumtemparatur überhandnimmt, dass alles vergeht vor Hitze, muss man sich nicht wundern, dass auch die Zeit so schnell vergeht. Schade, dass ich erst mit 60 auf diese Erkenntnis stosse. Deshalb nichts wie los und im überheizten Raum ein paar Zeitfenster öffnen um durchzulüften. Denn was gibt es Schöneres als bei offenem Zeitfenster in die Landschaft zu blicken und der Zeit genüsslich beim Verstreichen zu helfen...

«ehe» für alle:
Es gibt Leute, die begnügen sich damit, statt «Ja» nur «e-he» oder statt «Nein» nur «hö-ö» zu sagen. Wenn es feierlich und verbindlich zugehen muss, ist die eher beiläufige Bejahung mit «ehe» allerdings eher selten. Gerade auf dem Zivilstandsamt zum Beispiel, wäre in der recht saloppen Zustimmung mit «ehe» jedoch eine tiefgreifende Wahrheit verborgen, denn das, wozu man/frau «ehe» gesagt hat, ist nichts anderes als die «Ehe». Die Ehe als ein auf unbestimmte Zeit hin kristallisiertes «ehe» zueinander. Inzwischen haben auch die schweizerischen Stimmbürger/innen «ehe» gesagt zur «Ehe für alle». Die Heterofundamentalisten wollten zwar daran festhalten, dass die Ehe weiterhin exklusiv eine Lesbengemeinschaft zwischen Mann und Frau bleiben sollte, aber das Volk – wer immer das ist – hat sich auf lesbenbejahende Weise offen gezeigt und dem universalen zwischenmenschlichen «ehe» die Türe geöffnet. Gerade weil wir inzwischen in einer recht heterogenen Gesellschaft leben, ist die Homo-Ehe nachgerade eine Selbstverständlichkeit, während stark homogene Gesellschaften immer noch auf die Heteros focussiert sind. Allmählich hat sich denn auch die Erkenntnis durchgesetzt, dass beim Menschengeschlecht das Geschlecht nicht eine derart überragende Rolle spielt, gehören wir doch seit «ehedem» dem Primatenstamm des «Homo Sapiens» an und nicht etwa des «Hetero Sapiens». Hinzu kommt in letzter Zeit auch noch die Tendenz, dass wir pandemiebedingt heute in zunehmendem Masse im sogenannten «Homo-Office» arbeiten und nicht mehr ausschliesslich im «Hetero-Office». Was die Ehe-Traditionalisten besonders «mopst», ist insbesondere die Zulassung der nicht-beischläfrigen Samenspende für die «2-Mütter-0-Vater-Ehe». Ins Feld geführt wird da etwa die angebliche Gefahr der Übermütterung und Unterväterung. Ein solches Gefahrenpotential kann sich allerdings genauso bei ganz gewöhlichen Hetero-Ehen zeigen. Andere Traditions-Affine haben zwar nichts gegen die Einführung der Homo-Ehe, hängen jedoch bezüglich Samenspende immer noch klassisch antiken Verfahrensmustern an, fasziniert von der Vorstellung, wonach die Lesben von Lesbos bei einem allfälligen Kinderwunsch einige adonishafte Samenspender aus dem benachbarten Samos kommen liessen, unter denen sie dann jeweils einen für den entscheidenden «one-night-stand» auswählten. Ausser diesen kurzfristigen Samenspendern durften nämlich in mythischer Zeit keine Männer nach Lesbos einreisen, insofern war Lesbos in jeder Hinsicht ein «Kei-man-island», während auf den Cayman Islands heute vor allem hochbezahlte Steuerflüchtlingshelfer in gelangweilter Hetero-Anmachstimmung ihre Daiquiris schlürfen. Und wenn wir wegen der Samenspende schon bei Samos und Lesbos sind, darf natürlich auch Rhodos nicht vergessen werden, zumal wir ja in der Schweiz Rhodos sogar in zweifacher Ausführung haben, nämlich Innerrhodos und Ausserrhodos. Innerrhodos hat der «Ehe für alle» übrigens nur knapp mit 50,8 % zugestimmt, Ausserrhodos mit 57,8%. Das Vorurteil von den rückständigen Innerschweizern und Innerrhödlern wird jedoch von den Abstimmungsresultaten vom 26. September 2021 zum Teil auf bemerkenswerte Weise widerlegt. So haben die Urner z.B. 58,3% Ja in die Urnen gelegt, und die Urnäscher (Ausserrhodos) nur 36,4%, die Nidwaldner 61.6%, und die Oberhallauer/SH nur 47,5%. Wenig erstaunt uns, dass der Ja-Stimmen-Anteil im «Bedheterotal» (TI) nur bei 25% lag. Allerdings lag die Zustimmung auch im aargauischen «Hinzenschwul» nur bei enttäuschenden 56,1%. Eine der markantesten Begleiterscheinungen der «Ehe für alle» ist nun aber vor allem auch die «Scheidung für alle». Rund 50% der in unserer «Scheidgenossenschaft» geschlossenen Ehen werden früher oder später – nicht durch den Tod, sondern durch eine Einzelrichterin – geschieden. Die Möglichkeit der Scheidung ist es doch gerade, die – unter anderem – zur Durchlüftung der auf Dauer angelegten Ehen beiträgt. Ob in hetero-, homo- oder a-sexuellen, diversen oder nicht-binären Beziehungen, der Notausgang «Scheidung» ist gewissermassen - gerade auch wenn er nicht benutzt wird – das Überdruckventil, das es den Verehelichten überhaupt erst ermöglicht, im Zustand der Freiwilligkeit von Zeit zu Zeit immer wieder mal unausgesprochen «ehe» zueinander zu sagen. Das alles muss gebührend gefeiert werden. Sei es im «Scheidiland», auf der Scheidmatt, in Scheidwilen, in Scheidlisbach oder auf der Grossen- oder Kleinen Scheidegg: Mit einer «Apfelwähe für alle» oder mit einem feinen «Scheidelbeer-Dessert»…
Ch.B. 5.10.2021

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