fragwürdige Fragmente
Das Zenbürstchen
Unter allen spirituellen Strömungen ist der Zen-Putzismus wohl eine der am weitesten verbreiteten. Man braucht dazu lediglich ein Lavabo, ein Zenbürstchen, etwas Zenpasta und zum Abschluss noch ein wenig Zenseide. Für den Zen-Putzismus braucht man nicht unbedingt ein Zen-Zentrum, man kann diese Exerzitien ohne weiteres auch zuhause praktizieren. Auch beim Zenputzen geht es darum, sich voll und ganz in das Hier und Jetzt zu verzenken und alles loszulassen. Das Zenbürstchen sollten wir beim Zen-Putzismus allerdings gerade nicht loslassen, weil es uns nämlich hilft, alles andere loszulassen, ja das Zenbürstchen ist gewissermassen der Inbegriff des Loslassens, nicht nur in Bezug auf die Verabschiedung der Essensreste. So üben die Zen-Adepten «eifrig» das Loslassen indem sie nach und nach ihre Einsamkeit, ihre Zweisamkeit und ihre Dreisamkeit überwinden, bis sie in ihrer Loslassung schliesslich zur «8-samkeit» kommen. Je mehr sie loslassen, umso mehr wächst ihre Zensucht nach weiterem Loslassen. Allmählich haben sie alles losgelassen, ausser das Loslassen selbst. Und je mehr Objekte sie losgelassen haben, umso mehr halten sie am Loslassen fest. Doch der Zenmeister fordert sie auf, nun auch noch das Loslassen selbst loszulassen und so den Zen-Putzismus ohne Zenbürstchen zu praktizieren. Und nach langer, langer, langer, langer, langer, langer, langer, langer, langer Verzenkung haben die ZenNoviZen endlich auch das Loslassen selbst losgelassen und gelangen so vom Zen zur Elf, und damit zur Erleuchtung. Doch wehe, wenn das Loslassen losgelassen! Bald nach der Erleuchtung schwindet nämlich unvermeidbar der Einfluss des Zenmeisters, und die Adepten geraten in den Einflussbereich der Trans-Zen-Dentalhygienikerinnen, welche ihnen einschärfen, man dürfe das Zenbürstchen beim Zenputziusmus niemals loslassen, gerade das richtige Zenputzen mit dem Zenbürstchen unterscheide den Zenputzisten von einem völlig unachtsamen religiösen Kariesmatiker. Die anhaltenden Widersprüche sorgen jedenfalls dafür, dass es den Erleuchteten nach der Erleuchtung nicht langweilig wird. Sie müssen nämlich das nahezu unlösbare Rätsel lösen, wie man gleichzeitig am Loslassen festhalten und es dennoch loslassen kann.
Ch.B., 23.05.2024
Herr Nidegger und die «Lopogädin» Margarita
Herr Nidegger hat immer wieder Mühe, sich verständlich zu machen und das richtige Wort zur richtigen Situation zu finden. Die Schwierigkeiten beginnen bereits dann, wenn er nach seinem Namen gefragt wird und er ganz arglos mit «Nidegger» antwortet. Da wird ihm entgegengehalten, dass man nicht wissen wolle, wie er nicht heisse, sondern eben, wie er wirklich heisse. Beharrt der Angefragte auf «Nidegger» findet man dies meist gar nicht lustig, die meisten Leute heissen ja bekanntlich nicht Egger, sondern irgendwie anders. Aber seinen Namen auf diese billige Art in ein Rätsel zu verpacken, sei doch sehr verschroben. Ja man frage sich, ob da nicht etwa jemand eine Schraube locker…, worauf Nidegger entgegnet, er jedenfalls habe mit Sicherheit noch alle Schrauben im Schrank zudem auch noch alle Schränke in der Tasse, und wenn man ihm auf diese Weise den «Strassenverkehrsmittelfinger» zeige, sei dies doch mindestens eine absolute «Schreinerei». Herr Nidegger spricht da zweifellos eine «tiefgeifernde» Wahrheit aus, eine Wahrheit, die durch Daten und Fakten ausserordentlich breit «abgestürzt» ist. Doch beim Wort Strassenverkehrsmittel fällt ihm unversehens ein, dass er sich ja auf ärztliche Weisung hin erst einmal einer «Tramspiegelung» unterziehen muss. Zudem muss er aufpassen, dass ihm bei einem vorbeischlendernden Hardrocker nicht verbal wahrnehmbar das Wort «Haartrockner» über die Lippen geht, dass ihm in Gegenwart eines Staatsanwaltes nicht unversehens das düstere Wort «Satanswald» durch die Synapsen huscht, oder dass er einen Gerichtspräsidenten nicht versehentlich mit der Anrede «Herr Kehrichtspräsident» begrüsst. Wie wenn da nicht schon genug sprachliche Fallstricke auf ihn lauern würden, ist ihm zudem auch noch das Missgeschick passiert, dass er eine der heute allgegenwärtigen Trigger-Warnungen als Tiger-Warnung verstanden hat, worauf er sich eine Zeitlang nur noch bewaffnet durch den öffentlichen Raum bewegte. Wenn man ihm dann erklärt, er sei da einer Falschinformation erlegen, dann schaut er in den Himmel, ob da wirklich eine Fallschirmformation zu sehen sei. Ja, die banalsten Verwechslungen machen Herrn Nidegger schwer zu schaffen. Man gibt ihm zu verstehen, er sei halt ein «Lästageniker» und müsse dringend eine «Lopogädin» aufsuchen, keinesfalls jedoch eine «Podolägin», «Podologin» oder «Pologädin». Nidegger weiss bald nicht mehr, wo ihm der Kopf steht, ob er nun wirklich Nidegger heisst oder vielleicht eher Nigetter, Negitter, Newdecker oder am Ende halt doch Egger, vielleicht sogar in einem Wort «Dochegger». Er muss aufpassen, dass seine persönliche «Nideggrität» durch diese heimtückische Fleischwolfisierung der Sprache nicht kontangentiert wird. Und so sucht Nidegger dann halt eine «Lopogädin» auf (oder vielleicht auch eine «Podolägin»), welche sich als Margarita vorstellt, und lernt dort, einen Versprecher von einem Versprechen klar zu unterscheiden, ebenso einen Lackmustest von einem Lachmuskeltest. Sowohl die «Podolägin» Margarita wie auch Nidegger lieben die Lachmuskeltests, die ihnen bei der Erkundung der überall schlummernden Geheimnisse der Sprache immer wieder begegnen, und allmählich entsteht zwischen ihnen eine ganz eigentümliche Sprache, die man vielleicht auch als Liebesgeflüster bezeichnen kann. Und wie sie sich dann wieder einmal einem ihrer vielen Lachmuskeltests hingeben, ruft Margarita ihm zu: «Ach Liebegger, I need you, ich liebeggere dich so». Und der inzwischen recht sprachgewandte Nidegger gesteht ihr: «Wegen dir habe ich soviele Bäuchlinge im Schmetter, meine heissgeliebte Margarine…». Und so halsen sie sich innig um den Fall…
Ch.B. 27.04.2024
Adalbert Muggli - oder der sich selbst verhindernde Roman
Der Hobbydichter Adalbert Muggli aus Neuchâtel ist schon seit bald zwei Stunden im Neigezug «Friedrich Dürrenmatt» unterwegs, unterwegs durch die Hügellandschaften und vielschichtigen Metaebenen des schweizerischen Mittellandes, unterwegs nach Romanshorn Les Bains, wo er im romantischen Strandhotel Nebelhorn seinen ultimativ-autofiktionalen Erstlingsroman zu schreiben gedenkt. Mit diesem bahnbrechenden Romanwerk möchte er baldmöglichst in die Literaturgeschichte eingehen, auf dass dann die SBB dereinst ihm zu Ehren einen Adalbert-Muggli-Neigezug in ihren Rollmaterialpark aufnehmen wird. Ein Neigezug ihm zu Ehren, dieses Ziel beflügelt Adalbert Muggli mehr denn je. Romantisch müsste der Roman sein, den er in Romanshorn erschaffen wird. Die Leserinnen und Leser würden seinen Romanshorner Roman dann fasziniert in einem Zug verschlingen, womöglich sogar in einem Neigezug. Das würde die geneigte Leserschaft tun, und die Zuneigung aus allen kultivierten Kreisen wäre ihm sicher. Auf dem Buchumschlag wäre dann vielleicht sogar - dank Fotomontage - ein Neigezug zu sehen, der beschriftet mit dem gut sichtbaren Namenszug «Adalbert Muggli» durch die Metaebenen des schweizerischen Mittellandes brausen würde. Zunächst aber ist es der geneigte «Friedrich Dürrenmatt», in welchem der zukünftige Romancier Adalbert Muggli sitzt, unterwegs zu dessen Tatort in Romanshorn. «Unterwegs» wäre übrigens ein ganz passabler Romantitel, allerdings schon etwas abgegriffen, viel schillernder wäre da doch so ein Titel wie «Die Erinnerung an das Vergessen» oder «Der erloschene Glühwurm». Ja, bei einem Glühwein werden sie sich kennenlernen, die Musiktherapeutin Tatjana und der Journalist Orlando, draussen in einer kalten Winternacht in Romanshorn. Ja, irgendwie so müsste der Roman beginnen. Ein fulminantes Finale mit einer Schnellboots-Verfolgungsjagd auf dem Bodensee schwebt Muggli ebenfalls schon vor. Schliesslich müsste man dann nur noch den ganzen Mittelteil mit spannungsreichem Inhalt füllen. Besonders auf die Spannungsbögen will Adalbert Muggli achten, denn ohne Spannungsbögen fällt die beste Story ins Wasser. Ja, am grossen Wasser des Bodensees, in Romanshorn, wird sich die Spannung Schritt für Schritt aufbauen. Dort, im Strandhotel Nebelhorn werden die Handlungsstränge und Metaebenen dann aus ihrer anfänglichen Nebelhaftigkeit heraus immer klarere Konturen annehmen. Noch ganz verschwommen drängt sich da auch die geheimnisvolle Villa eines schwerreichen libertären Sektengurus in den noch ungeschützten Roman hinein. Manchmal kommt es Muggli vor, er reise nicht nur an den Ort der Niederschrift des Romans, sondern direkt ins Innere seines Romans hinein, in sein inneres Romanshorn gewissermassen. Inzwischen ist der sich neigende «Friedrich Dürrenmatt» am Bahnhof von «Güllen» eingetroffen, wo nebst anderen Fahrgästen auffallend viele alte Damen aus- und einsteigen. Gehören diese Damen nun schon in seinen eigenen künftigen Roman oder sind sie vielleicht doch eher Teil einer anderen Geschichte, die der Namensgeber des gegenwärtigen Neigezuges zu verantworten hat? Je näher Muggli seinem Tatort Romanshorn kommt, umso mehr wird ihm bewusst, dass dieser Tatort für ihn wohl nur ein «Wortort» bleiben wird. Ja, der Hedge-Funds-Manager Elgar Pranzinger in seinem Survival-Resort in Hättenschwil ist ein glühender Verfechter der Meritokratie. Nur die Besten und Intelligentesten mit der vorzüglichsten genetischen Ausstattung sollen seiner Ansicht nach noch eine Zukunftschance haben. Zur atmosphärischen Belebung seines befestigten Survival-Zentrums hat er denn auch schon verschiedene Künstler und Künstlerinnen eingeladen, unter anderen auch Tatjana Marini. Elgar Pranzinger hat versucht, sie mit seinem weltläufigen Charme zu umgarnen, und möchte sie, angeblich zur musikalischen Verbreitung von höheren Schwingungen, für eine Mitwirkung in seinen Top-Society-Seminaren verpflichten, gegen grosszügige Bezahlung, versteht sich. An jenem Wintertag hat sie es in der besagten Villa in Hättenschwil dann einfach nicht mehr ausgehalten und so setzt sie sich in der Folge kurzentschlossen nach Romanshorn ins Hotel Nebelhorn ab. Dort logiert bereits seit einigen Tagen der Investigativ-Journalist Orlando Frauchiger. Adalbert Muggli, der künftige Schriftsteller dieses Romangeschehens, weiss natürlich, dass sich Orlando und Tatjana demnächst auf der Seeterrasse dieses Hotels bei einem Glühwein kennenlernen werden. Nur die Romanfiguren selber wissen nicht, was alsbald in ihrer Romanwelt geschehen wird. Würden sich nun aber Tatjana und Orlando in dieser einschlägigen Romanshorner Winternacht nicht begegnen, fiele der ganze Romanshorner Roman wie ein Kartenhaus in sich zusammen, und Adalbert Muggli könnte in Romanshorn gleich wieder den nächsten Neigezug zurück nach Neuchâtel nehmen. Doch da realisiert Muggli plötzlich, dass er allein es in der Hand hat, ob seine Romanhelden sich unter den besagten neuralgischen Umständen begegnen oder nicht. Plötzlich nun ist Muggli von einem beschwingten Hochgefühl erfüllt, und er kann es kaum erwarten bis «Friedrich Dürrenmatt» endlich im Zentrum seines künftigen Romans ankommt. Adalbert Mugglis Hochgefühl ist bei der Ankunft in Romanshorn immer noch da und es hält an bis Muggli sich nach einem vorzüglichen Nachtessen schliesslich in sein Zimmer zum Schreiben zurückzieht. Er will unbedingt gleich mit der winterlichen Begegnungsszene auf der Seeterrasse beginnen. Orlando Frauchiger steht mit seinem Glühweinglas bereits an der Bartheke. Nur Tatjana Marini fehlt noch. Sie lässt sich wohl etwas Zeit mit ihrem Erscheinen. Muggli nimmt einen neuen Schreibanlauf, aber Tatjana will einfach nicht ins Romangeschehen herein-, bzw. auf die Seeterrasse herauskommen. Vielleicht hat sie von dem, was der Romanschreiber mit ihr vorhat, Wind bekommen, und weigert sich nun, ihre vorgezeichnete Rolle zu spielen. Eben noch musste sie sich in der Hättenschwiler Villa über den selbstherrlich arroganten und schleichend übergriffigen Egomanen Pranzinger ärgern, und nun will da ein dahergelaufener «Möchtegern-Dürrenmatt» sie zu allem Überfluss auch noch in eine vermutlich ziemlich billige Roman-Romanze in Romanshorn hineinmanövrieren. Tatjana will sich zu einem derart männerbestimmten Ereignismuster nicht hergeben. Sie packt erneut ihren Koffer und begibt sich zum Bahnhof Romanshorn, wo sie erleichtert den nächsten Neigezug, vermutlich den «Robert Walser», besteigt. Auf diese Weise neigt sich nun auch Adalbert Mugglis Romanshorner Roman, noch bevor er richtig begonnen hat, bereits wieder seinem vorzeitigen Ende zu. Die vielversprechenden Spannungsbögen des geheimnisvollen Romangeschehens werden infolge eines plötzlichen Personalabganges jäh an ihrer Entfaltung gehindert. So steht die schiere Ungeschriebenheit dieses Erstlingswerks dem bereits erwarteten literarischen Durchbruch von Adalbert Muggli blödsinnig im Weg. Über das weitere Schicksal von Tatjana Marini ist nichts bekannt, insbesondere nichts darüber, ob sie allenfalls in einem anderen neu entstehenden Roman Zuflucht gefunden hat. Im Übrigen wird es nun wohl auch nie soweit kommen, dass ein «Adalbert Muggli»-Neigezug stolz durch die Hügellandschaften und die immer noch vielschichtigen Metaebenen des schweizerischen Mittellandes gleitet.
Ch.B. 02.05.2023